Norm-Linkage als Legitimitätspolitik: Die Interaktion von Schutz- und Strafverfolgungsnormen in Debatten über humanitäre Kriseninterventionen

Was soll die „internationale Gemeinschaft“ tun, wenn in einem Land schwerste Gewaltverbrechen gegen Zivilisten verübt werden? Seit Ende des Kalten Krieges haben sich in der Weltgesellschaft verschiedene (informelle) Normen herausgebildet, die für solche Fälle eine Intervention der Staatengemeinschaft postulieren.

Die „Schutznorm“ fordert ein notfalls auch militärisches Eingreifen, wenn ein Staat seine Bürger nicht selbst vor schwerer Gewalt schützt, die „Strafverfolgungsnorm“ dagegen sieht eine internationale Strafverfolgung schwerster Gewaltverbrechen vor, wenn diese im zuständigen Staat ungestraft bleiben. Obwohl beide Interventionsnormen unterschiedliche Ziele verfolgen – die Eindämmung von Gewaltverbrechen einerseits und ihre Bestrafung andererseits –, wurde seit Beginn ihrer Entstehung über Konflikte und Synergien zwischen ihnen diskutiert: Können Strafverfolgungen auch zum Schutz von Zivilisten vor Gewalt beitragen oder wirken sie eher gewalteskalierend? Helfen militärische Interventionen zum Schutz der Bevölkerung auch der globalen Strafjustiz oder gefährden sie deren Ziele? Die Debatte über diese Fragen wird nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch und gerade von politischen Akteuren geführt. 


Das beantragte Projekt untersucht den Verlauf dieser politischen Debatte, indem es fragt: Welche kollektiven Deutungen des Verhältnisses von Schutz- und Strafverfolgungspflichten haben sich in bisherigen internationalen Diskussionen über humanitäre Kriseninterventionen durchgesetzt – und warum? Trifft die Vermutung einiger Beobachter zu, dass Argumente über Konflikte und Synergien zwischen Schutz- und Strafverfolgungsmaßnahmen zur Legitimation bestimmter Interventionsentscheidungen instrumentalisiert werden? Benutzen z.B. Regierungen das Argument der Gewaltprävention durch Strafverfolgung als Ausrede, um kostspielige militärische Maßnahmen zu vermeiden? Und wenn ja, warum konnten sich bestimmte strategische Deutungen im kollektiven Diskurs durchsetzen – und damit letztlich auch die Interventionspraxis der Staatengemeinschaft prägen?

Zur Beantwortung der fallspezifischen Fragen wird ein allgemeines theoretisches Modell der Norminteraktion entwickelt und angewandt, das auch auf andere Politikfelder übertragbar ist und damit einen weitergehenden theoretischen Beitrag zur Forschung über internationale Normen leistet. Norminteraktion wird in diesem Modell als Produkt diskursiver Legitimitätspolitik begriffen. Strategische politische Akteure konstruieren ein positives oder negatives diskursives Linkage zwischen zwei internationalen Normen, um ihren Präferenzen größere Legitimität und Durchsetzungskraft zu verschaffen. Ob sich ein Linkage-Argument im kollektiven Diskurs durchsetzen kann, hängt dabei von bestimmten strukturellen Eigenschaften des Diskurses ab: von Interessen- und Machtkonstellationen sowie Autoritätszuschreibungen unter den Diskursteilnehmern und von Präzedenzfällen, die zu einer pfadabhängigen Normentwicklung führen können.

Das Projekt wird über eine Laufzeit von drei Jahren von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.

Projektleitung:
1
The Partial Return of Universal Jurisdiction: Syrian Torturers on Trial in Germany | 2020

Fehl, Caroline (2020): The Partial Return of Universal Jurisdiction: Syrian Torturers on Trial in Germany, Global Policy Journal, 12.5.2020.

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2
Bombs, Trials, and Rights: Norm Complexity and the Evolution of Liberal Intervention Practices | 2019

Fehl, Caroline (2019): Bombs, Trials, and Rights: Norm Complexity and the Evolution of Liberal Intervention Practices, in: Human Rights Quarterly, 41:4, 893–915, DOI: 10.1353/hrq.2019.0066.

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3
Assad könnte in Idlib wieder Giftgas einsetzen – doch eine militärische Antwort wäre falsch | 2018

Fehl, Caroline (2018): Assad könnte in Idlib wieder Giftgas einsetzen – doch eine militärische Antwort wäre falsch, PRIF Blog, 13.9.2018.

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4
Navigating Norm Complexity | 2018

Fehl, Caroline (2018): Navigating Norm Complexity. A Shared Research Agenda for Diverse Constructivist Perspectives, PRIF Working Papers No. 41, Frankfurt/M.

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5
Chasing Justice for Syria | 2017

Fehl, Caroline / Mocková, Eliška (2017): Chasing Justice for Syria. Roadblocks and detours on the path to accountability, PRIF Spotlight 5/2017, Frankfurt/M.

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6
Probing the Responsibility to Protect's Civilian Dimension | 2014

Fehl, Caroline (2014): Probing the Responsibility to Protect's Civilian Dimension. What Can Non-Military Sanctions Achieve?, in: Fiott, Daniel/Koop, Joachim (eds), The Responsibility to Protect and the Third Pillar. Legitimacy and Operationalization, Basingstoke: Palgrave Macmillan, 39-57, https://link.springer.com/chapter/10.1057/9781137364401_4.

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7
Growing Up Rough: The Changing Politics of Justice at the International Criminal Court | 2014

Fehl, Caroline (2014): Growing Up Rough: The Changing Politics of Justice at the International Criminal Court, PRIF Report No. 127, Frankfurt/M.

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8
Responsibility to Pretend? | 2013

Fehl, Caroline (2013): Responsibility to Pretend? Symbolische Politik und die nicht-militärische Dimension der R2P, in: Daase, Christopher/Junk, Julian (Hg.), Internationale Schutzverantwortung - Normative Erwartungen und politische Praxis, Friedens-Warte Sonderheft, 88:1, 117-139, https://www.jstor.org/stable/23773916?seq=1#page_scan_tab_contents.

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9
Sanctions, Trials and Peace | 2012

Fehl, Caroline (2012): Sanctions, Trials and Peace. Promises and Pitfalls of Responsibility to Protect's Civilian Dimension, in: Fiott, Daniel/Zuber, Robert/Koops, Joachim (eds), Operationalizing the Responsibility to Protect: A Contribution to the Third Pillar Approach, Brüssel: Madariaga - College of Europe Foundation, Global Action to Prevent War, the Global Governance Institute and the International Coalition for the Responsibility to Protect, 95-103.

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