Radikalisierung in der normativen nuklearen Ordnung: Wie Anfechtung und Widerstand gegen den Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag zum Atomwaffenverbotsvertrag führten

Die globale nukleare Ordnung und ihr Herzstück, der Nukleare Nicht­­­verbreitungs­­­vertrag (NVV), befinden sich in einer Krise. Insbesondere die 2017 erfolgte Verhandlung des Vertrags über das Verbot von Kernwaffen (TPNW) hat die etablierte nukleare Ordnung schwer erschüttert. Der neue Vertrag hat die Risse innerhalb der inter­nationalen Nuklear­­architektur ans Licht gebracht, insbesondere die wachsende Spaltung zwischen nuklearen „Haves“ und „Have-Nots“. So ist es nicht verwunderlich, dass die Stimmung gegenüber dem Vertrag gespalten ist: Während Befürworter*innen ihn als außergewöhnliche Initiative sehen, die die Abrüstung vorantreibt, betrachten Gegner*innen ihn als Bedrohung für die bestehende nukleare Ordnung. Beide Seiten stimmen jedoch in ihrer Diagnose überein, was die Ursprünge der durch den TPNW aufgedeckten Anfechtung der nuklearen Ordnung betrifft: Sie wird zumeist als direkte Folge unzureichender Abrüstungs­­schritte, als natürliche Konsequenz der hierarchischen Struktur des NVV oder als zielgerichteter Akt von Norm-Entrepreneur­ship gedeutet. Dabei werden jedoch die Vielzahl und das Zusammenspiel von Einflussfaktoren, die für die Anfechtung des NVV konstitutiv sind, übersehen.

Das Dissertations­projekt wirft einen genaueren Blick auf die Kontestations­­prozesse, die die Entstehung des TPNWs ausgelöst und gefördert haben und die politischen Auseinander­­setzungen in und um den NVV seither begleiten. Dazu greift die Dissertation auf Forschung zu Normen­an­fechtung und Radikalisierung zurück, um den tatsächlichen Prozess der Anfechtung, der zum TPNW führte, besser zu verstehen. Indem (prozessual) nachgezeichnet wird, wie sich die Positio­nierungen der Staaten zum TPNW entwickelt haben, möchte die Dissertation darlegen, wie die Anfechtung innerhalb des NVV als Quelle und Verstärker von Radikalisierungs­­prozessen diente, die sich besonders in der Polarisierung der nuklearen Ordnung widerspiegeln, wie wir sie gerade beobachten. Denn hinter den Auseinander­­setzungen um den NVV und den TPNW stehen nicht nur prozedurale oder technische Fragen, z.B. wie nukleare Abrüstung vorangebracht werden kann. Vielmehr ging es bei der Aushandlung des TPNW auch um Fragen der Interpretation der grundlegenden Normen, die der normativen nuklearen Ordnung zugrunde liegen, und um die Macht­ver­hältnisse, die durch den NVV reproduziert und legitimiert werden. Durch diese Perspektive beleuchtet der Artikel die komplexe Natur der Anfechtung innerhalb des NVV, die weder auf die Befürworter*innen noch auf die Gegner*innen des Atom­waffen­­verbots beschränkt ist.