Kanadas Umgang mit kolonialer Gewalt

PRIF Report über die Probleme rechtlicher und politischer Aufarbeitung kulturellen Genozids

Foto: Paul Joseph via Flickr, CC BY-NC 2.0

Kanada machte im Jahr 2021 mit Altlasten kolonialer Gewalt inter­nationale Schlagzeilen: Quer durch das nord­amerikanische Land wurden auf den Geländen ehemaliger Internats­schulen für indigene Kinder und Jugendliche men­schliche Überreste gefunden. Die kanadische Öffent­lichkeit zeigte sich erschüttert.

Im neuen PRIF Report beschäftigen sich die Autor­innen Friederike Drews und Sabine Mannitz mit der syste­matischen Gewalt, die im Kontext der kana­dischen Geschichte als Teil der Siedlungs­kolonial­politik verübt wurde und mit ihren an­haltenden Konsequenzen.

Eine Truth and Recon­ciliation Commissison (TRC) war bereits im Jahr 2008 eingesetzt worden, um insbesondere die Geschehnisse in den genannten Internats­schulen zu erhellen. Rund 150.000 Kinder indigener Bevölkerungs­gruppen waren in Kanada seit Mitte des 19. Jahr­hunderts und z.T. bis in die 1990er Jahre durch den Staat zum Besuch solcher Schulen in meist kirchlicher Träger­schaft gezwungen, welche weit von den – ebenfalls staatlich festgelegten – Siedlungs­gebieten ihrer Familien entfernt waren. Das Ergebnis der Kommission: Durch das gezielte Ent­fremden der Kinder von ihren Herkunfts­gruppen sei ein "kultureller Genozid" begangen worden.

Im Fokus des Reports steht dieses Konzept des kulturellen Genozids. Wie kann es sein, dass ein Kom­plex an Ver­brechen den Tat­bestand eines Genozids erfüllt, dass daraus aber keine 'straf­rechtlichen' Konse­quenzen abzuleiten sind? Die Antwort ist die nicht eindeutig juristische Kodifi­zierung des Begriffs. Diesen Lücken der Kodifi­zierung widmen sich die Autor­innen in einer tief­gehenden Analyse mit Blick zurück auf die politi­schen Prozesse, die der Schaffung von inter­nationalem Recht voran­gingen. Ein Fazit: Zur Auf­arbeitung der kolonialen Gewalt braucht es eine Weiter­entwicklung des Rechts, aber auch den politischen Willen, sich den komplexen Folgen der Herrschafts­geschichte in der heutigen Gesell­schaft zu stellen. Solange der Schock über die ver­scharrten Kinder­leichen in der kana­dischen Gesell­schaft noch nicht ab­geklungen ist, bietet sich für den nord­amerikanischen Staat die Chance, einen rechtlich-politisch ver­schränkten Aufarbeitungs­prozess in die Wege zu leiten, von dem auch andere ehemalige Kolonial­staaten lernen könnten.

Friederike Drews studiert im Master International Criminal Justice an der Philipps-Universität in Marburg. Sie hat während ihres Praktikums an der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung an dem Report mitgearbeitet. 

Der Report ist auch auf Englisch erschienen.

Download (auf Deutsch): Drews, Friederike/Mannitz, Sabine (2021): Probleme der Aufarbeitung kulturellen Genozids. Rechtliche Regelungslücken und politische Defizite am Beispiel Kanadas, PRIF Report 7/2021.
Download (auf Englisch): Mannitz, Sabine/Drews, Friederike (2022): Canada's Violent Legacy. How the Processing of Cultural Genocide is Hampered by Political Deficits and Gaps in International Law, PRIF Report 3/2022.