Spotlight 12/2021: Eine gewaltträchtige Ordnung. Gezielte Tötung als Mittel des „demokratischen“ Wettstreits in den Philippinen | Anhang

von Peter Kreuzer | Zur Publikation

1 Für weitere Ausführungen zur politischen Gewalt siehe auch den Report des Autors von 2009, Kreuzer, Peter: Philippine Governance: Merging Politics and Crime, PRIF Report No. 93, Frankfurt/M. 2009 (https://www.hsfk.de/fileadmin/HSFK/hsfk_downloads/prif93.pdf), sowie Kreuzer, Peter (2009): Private Political Violence and Boss-Rule in the Philippines, in: Behemoth Vol. 2/1, S. 47–63; und Kreuzer, Peter: Mafia-style Domination in the Philippines: Comparing Provinces, PRIF Report No. 117, Frankfurt/M. 2012 (https://www.hsfk.de/fileadmin/HSFK/hsfk_downloads/prif117.pdf).

2 Blume, Laura Ross (2017): The Old Rules No Longer Apply: Explaining Narco-Assassinations of Mexican Politicians, in: Journal of Politics in Latin America, Vol. 9/1, S. 59–90.

3 Siehe hierzu den aktuellen PRIF Report des Autors, in dem die unterschiedlichen Muster der Gewalt an einer Reihe von Fällen exemplarisch aufgezeigt werden: Kreuzer, Peter: „If You Can’t Beat Them, Kill Them“. Fatal Violence Against Politicians in the Philippines, PRIF Report 2/2021, Frankfurt/M. (https://www.hsfk.de/fileadmin/user_upload/PRIF0221.pdf).
Eine Liste von über 200 Tötungen innerhalb von gerade einmal 150 Tagen im Jahr 2018 auf der Insel Cebu, die die gesamte Bandbreite der Gewalt ebenso illustriert wie deren Alltäglichkeit, findet sich in: Sunstar 2018: 150 days, 206 dead in Cebu, 11 October, (https://www.sunstar.com.ph/article/1768692/Cebu/Local-News/150-days-206-dead-in-Cebu).

4 Seit dem Sturz von Ferdinand Marcos werden die Philippinen im Polity-Index mit +8 als „demokratisch“ eingeschätzt, auf einer Skala von +10 („vollumfänglich demokratisch“) bis -10 („vollumfänglich autokratisch“) (https://www.systemicpeace.org/polityproject.html). Etwas kritischer werden die Philippinen im vom Economist herausgegebenen Demokratieindex bewertet. Dort gelten sie als „unvollständige Demokratie.“ 2020 belegten sie direkt nach Ungarn Platz 55 bei einer Gesamtzahl von 167 analysierten Ländern (The Economist Intelligence Unit: https://www.eiu.com/n/campaigns/democracy-index-2020/). Ähnlich sieht dies der Bertelsmann-Transformationsindex, der die Philippinen gegenwärtig als „stark defekte Demokratie“ einstuft (https://bti-project.org/de/atlas.html).

5 Siehe die entsprechenden Jahrbücher des nationalen Statistikamts: Badan Pusat Statistick. Statistik Kriminal (https://www.bps.go.id/).

6 Das weit verbreitete Verfahren des „Friedenspaktes“ zielt darauf ab, Gewalt im Vorfeld von Wahlen zu verhindern, bestätigt aber gerade dieses prinzipielle Recht für die politische Klasse. S. hierzu Kreuzer, Peter: „If You Can’t Beat Them, Kill Them“. Fatal Violence Against Politicians in the Philippines, PRIF Report 2/2021, Frankfurt/M. (https://www.hsfk.de/fileadmin/user_upload/PRIF0221.pdf).

7 Normalisierung meint einen Prozess, durch den Verhaltensweisen und Einstellungen als Teil des Normalen bestimmt werden. In der Regel handelt es sich um Handlungen, die gängige soziale Normen verletzen, die aber in diesem Prozess der Normalisierung so umgedeutet werden, dass sie als angemessen und „natürlich“ verstanden und in der Folge kaum noch problematisiert werden.
Derzeit besonders relevant ist das Thema in Studien zu Gewalt gegen Frauen, die vielfach auf Stereotypen männlicher und weiblicher Identität aufsitzt, die Gewalt als „normalen“ Bestandteil der Beziehungen bestimmt und sogar dazu führt, dass Gewalt des Mannes gegen die Partnerin in ärmeren Ländern von Frauen, also den Opfern der Gewalt, häufiger als legitimer erachtet wird als von Männern: Sardinha, LynnMarie/Hector E. Najera Catalan (2018): Attitudes towards domestic violence in 49 low- and middle-income countries: A gendered analysis of prevalence and country-level correlates, in: PlosOne (https://doi.org/10.1371/journal.pone.0206101).
Weiterführend: Haleem, Irm (2019): How violence is normalized: on the process of violence, in: dies. (Hrsg): Normalization of Violence: Conceptual Analysis and Reflections from Asia, New York 2019, S. 12–32; und Rodelli, Maddalena et al. (2021): Conceptual Development and Content Validation of a Multicultural Instrument to Assess the Normalization of Gender-Based Violence Against Women, in: Sexuality and Culture 2021 (https://link.springer.com/article/10.1007%2Fs12119-021-09877-y).

Ein konkretes deutsches Beispiel für die Rolle kultureller Normalisierung von Gewaltverhältnissen ebenso wie für die Möglichkeiten des Wandels ist das Thema der Vergewaltigung in der Ehe, die in Deutschland erst 1997 als Vergewaltigung strafbar wurde. Im Hintergrund der ursprünglichen verminderten Strafbarkeit als Körperverletzung oder Nötigung stand ein in Rechtsnormen gegossenes Denken über die sexuelle Verfügbarkeit der Ehefrau für den Ehemann, das noch 1966 in einem Urteil des BGH zum Ausdruck kam. Dort heißt es:
„Die Frau genügt ihren ehelichen Pflichten nicht schon damit, daß sie die Beiwohnung teilnahmslos geschehen läßt. Wenn es ihr infolge ihrer Veranlagung oder aus anderen Gründen, zu denen die Unwissenheit der Eheleute gehören kann, versagt bleibt, im ehelichen Verkehr Befriedigung zu finden, so fordert die Ehe von ihr doch eine Gewährung in ehelicher Zuneigung und Opferbereitschaft und verbietet es, Gleichgültigkeit oder Widerwillen zur Schau zu tragen. Denn erfahrungsgemäß vermag sich der Partner, der im ehelichen Verkehr seine natürliche und legitime Befriedigung sucht, auf die Dauer kaum jemals mit der bloßen Triebstillung zu begnügen, ohne davon berührt zu werden, was der andere dabei empfindet“ (Bundesgerichtshof 1966. Urteil vom 2.11.1966 – IV ZR 239/65, https://openjur.de/u/270402.html.
Bei der Neufassung des entsprechenden Gesetzes drückt sich dieser „Vorbehalt“ in der Forderung vieler CDU- und FDP-Parlamentarier:innen aus, eine Widerspruchsklausel einzubauen, wonach die Strafverfolgung ende, wenn die Opfer ihr Strafverfolgungsinteresse zurückzögen, was impliziert, dass – anders als etwa bei Tötungs- und schweren Körperverletzungsdelikten – kein besonderes öffentliches Interesse an Strafverfolgung anzunehmen ist. Gegen das Gesetz stimmten in namentlicher Abstimmung 138 Abgeordnete (CDU/CSU: 137; FDP: 7; davon acht Frauen; Deutscher Bundestag 1997. Plenarprotokoll 13/175. 15 Mai, 15785-15800).
Ein abschließendes Beispiel für die kulturelle Normalisierung von Gewalt, die sich in Recht übersetzt, ist die in vielen US-Staaten noch legale Körperstrafe gegen Schüler:innen, die oft unter Benutzung von Gegenständen (zumeist spezielle Holzbretter) durchgeführt wird. Im Hintergrund dieser Praxis steht ein Urteil des Obersten Gerichts der USA von 1977. Dort argumentiert das Gericht, dass der verfassungsmäßige Schutz gegen grausame Bestrafung keine Anwendbarkeit auf die Körperstrafe zum Zweck der Disziplinierung von Schüler:innen habe. Noch 2013–14 wurde diese Form der Bestrafung gegenüber 100.000 Schüler:innen angewandt: Caron, Christina (2018): In 19 States, It’s Still Legal to Spank Children in Public Schools, New York Times, 13 December: https://www.nytimes.com/2018/12/13/us/corporal-punishment-school-tennessee.html).
Auffällig ist, dass diese Praxis fast nur in den Staaten des amerikanischen Südostens zur Anwendung kommt, die auch in Bezug auf Tötungsdelikte eine spezielle Rolle einnehmen – als von einer Subkultur der „Ehre“ geprägte Staaten. Dies wiederum resultiert in einer erhöhten Tötungsrate. Die Literatur argumentiert, „dass weiße Männer, die im ländlichen Süden aufgewachsen sind, mit größerer Wahrscheinlichkeit Gewalt in bestimmten Situationen […]  befürworten, insbesondere wenn es sich um Schutz der eigenen Person, der persönlichen Ehre, der Familie oder des persönlichen Eigentums handelt. […] Südstaatler sind einfach eher geneigt als andere, in bestimmten Situationen eine gewalttätige Antwort aus ihrem Werkzeugkasten zu ziehen. Anders ausgedrückt: Südstaatler haben Gewalt in ihrem ‚kulturellen Repertoire‘ ganz oben stehen, während andere dies nicht tun“ (Hayes, Timothy C./Lee, Matthew R. (2005): The Southern Culture of Honor and Violent Attitudes, in: Sociological Spectrum Vol. 25/5, S. 601 – Übersetzung P.K.; s. auch: Cohen, Dov/Nisbett, Richard E. (1997): Field Experiments Examining the Culture of Honor: The Role of Institutions in Perpetuating Norms About Violence, in: Personality and Social Psychology Bulletin, Vol. 23/11, S. 1188–1199; Clarke, James W. (1998): Without Fear or Shame: Lynching, Capital Punishment and the Subculture of Violence in the American South, in: British Journal of Political Science Vol. 28/2, S. 269–289).

8 Quellen für Aktivist:innenmorde sind die Erhebungen der Menschenrechtsorganisation Karapatan. Die Morde an Anwält:innen, Staatsanwält:innen und Richter:innen wurden über Berichte von internationalen und nationalen Jurist:innenvereinigungen rekonstruiert, die Zahlen zu den intentionalen Tötungsdelikten entstammen den Jahrbüchern der Philippines Statistics Authority, die Angaben zu getöteten Journalist:innen dem philippinischen Center for Media Freedom and Responsibility.

9 s. World Values Survey (https://www.worldvaluessurvey.org/).

10 Für Details siehe: Kreuzer, Peter: A Patron-Strongman Who Delivers: Explaining Enduring Public Support for President Duterte in the Philippines, PRIF-Report 1/2020, Frankfurt/M. (https://www.hsfk.de/fileadmin/HSFK/hsfk_publikationen/Prif0120.pdf).