„Politische Bildung muss Teilhabechancen ausgleichen“

Interview mit Dr. Raphaela Schlicht-Schmälzle

Stefan Kroll: Eine Deiner Publikat­ionen zur politischen Bildung trägt den Titel „Mehr als Prävention“. Was ist für Dich der Kern der politischen Bildung und inwieweit ist ein Verständnis von politischer Bildung als Prävention zu eng gefasst?

Raphaela Schlicht-­Schmälzle: Ich verstehe politische Bildung in der Demokratie tatsächlich in erster Linie als die Förderung von Menschen als aktive, verantwortungs­volle und mündige Bürger:­innen. Aber auch als Weg, gesellschaft­liche Konflikte durch Dialog zu lösen und immer wieder neue Regeln für ein friedliches Zusammen­leben zu erarbeiten. Dazu gehört sowohl die Vermittlung von Wissen als auch von Teilhabe­kompetenzen und Werten. Die Werte­vermittlung ist in der Demokratie keine Einbahn­straße. Natürlich geben wir von Generation zu Generation bestimmte Werte weiter und versuchen, diese zu erhalten. Das ist legitim, denn geteilte Werte sind wichtig für den gesell­schaftlichen Zusammen­halt. Dennoch brauchen wir in der demokrat­ischen politischen Bildung Freiräume und Anreize, um Werte infrage stellen zu dürfen und neue Wert­strukturen aushandeln zu können.
In den Demokratien haben sich in den vergangenen 50 Jahren Wert­strukturen immens verändert. Denken wir nur an die Haltung gegenüber Homo­sexualität, die Gleich­berechtigung der Geschlechter oder den Umgang mit Sexualität und Verhütung. Ein virulenter gesellschaftlicher Konflikt heute ist unsere nationale, ethnische, europäische oder globale Identität, den die politische Bildung aufgreifen muss. Dieses Verständnis von politischer Bildung hat große Schnitt­mengen mit der Präventions­arbeit.

Gesell­schaftliche Konflikt­linien sollten in der politischen Bildung frühzeitig erkannt und gelöst werden, bevor sie zur Spaltung führen können. Idealer­weise sollte erfolgreiche politische Bildung Menschen befähigen, sich im Rahmen demokratischer Regeln, also gewaltfrei, für ihre politischen Ziele einzusetzen. Und sie sollte immunisierend gegen extremistische – menschen­feindliche und anti­demokratische – Welt­bilder wirken. Wenn wir jedoch in der politischen Bildung nur noch die Prävention von negativen Phänomenen im Blick haben, dann verlieren wir unter Umständen den Blick auf die positiven Ziele: Nämlich, Menschen ganz grund­sätzlich in ihren Aufgaben als Souveräne in der Demokratie zu unter­stützen. Reduzieren wir politische Bildung darauf, zu verhindern, dass Menschen bestimmten politischen Ideologien anhängen, kann sie im schlimmsten Fall sogar den freien Werte­diskurs behindern und zu sogenannten ‚Schweige­spiralen‘ führen.
Meine Sorge ist, dass dann eine Klassen­gesellschaft in der politischen Bildung entsteht. Nämlich die eine politische Bildung, die sich den sogenannten „Ab­gehängten“ widmet, bei denen nur noch das ‚Schlimmste‘ verhindert werden soll, und die andere politische Bildung, die sich an jene privilegierte Klasse richtet, die tatsächlich auf Mit­gestaltung und Teilhabe vorbereitet wird. Das kann meines Erachtens in der Demokratie nicht funktion­ieren.

Stefan Kroll: In einem Deiner Projekte (PrEval) werden Designs zur Evaluation von Maßnahmen politischer Bildung entwickelt. Inwieweit sind Erfolge in politischer Bildung messbar?

Raphaela Schlicht-­Schmälzle: Fragen wir politische Bildner:­innen, was sie mit ihren Angeboten erreichen wollen, dann hören wir eine vielfältige Bandbreite von Erfolgs­begriffen. In manchen Programmen steht die Förderung von Teilhabe­kompetenzen im Vorder­grund (z.B. die Teilnahme an Wahlen). In anderen steht Wissen über politische Zusammen­hänge (z.B. die Analyse einer inter­nationalen Krise) im Zentrum und in wieder anderen geht es um die Verhinderung von rassistischen und menschen­verachtenden Einstellungen. Eine wichtige Grundlage für die Mess­barkeit von Erfolgen in der politischen Bildung ist die Klarheit darüber, was diese Erfolgs­begriffe und deren empirische Indikatoren bedeuten (‚Konstrukt­validität‘). Aber auch darüber, wie die Erfolge zueinander in Relation stehen oder sich gar gegenseitig bedingen. Wenn wir die Erfolge politischer Bildung definieren können und Indikatoren dafür benennen können, dann sind diese Erfolge auch messbar. Gerade in der politischen Bildung, in der wir mit stark normativ geprägten Erfolgs­definitionen arbeiten, ist die Validierung dieser Erfolge ein hohes Gut. Die Frage ist meiner Meinung nach daher weniger, ob Erfolge politischer Bildung messbar sind, sondern vielmehr, ob wir die Kausalität zwischen politischer Bildungs­arbeit und ihren Erfolgs­maßstäben objektiv und verlässlich überprüfen können.
Diese Frage ist sehr viel schwieriger zu beantworten. Wie viele andere Bildungs­angebote auch ist politische Bildung meist sehr komplex. Viele Faktoren können den Erfolg beein­flussen. Zudem sind die Angebote meist kurzfristig und erreichen nur wenige Teilnehmer:­innen. Hinzu kommt, dass Menschen außerhalb der politischen Bildungs­angebote nicht in einem Vakuum leben, sondern ihre politische Bildung durch eine Vielzahl an Umwelt­einflüssen fort­schreitet. So können letztlich selten konkrete kausale Ursachen von Erfolg und Miss­erfolg einer Maß­nahme bestimmt werden.

 

Meine Sorge ist, dass [...] eine Klassen­gesellschaft in der politischen Bildung entsteht. Nämlich die eine politische Bildung, die sich den sogenannten „Ab­gehängten“ widmet, bei denen nur noch das ‚Schlimmste‘ verhindert werden soll, und die andere politische Bildung, die sich an jene privilegierte Klasse richtet, die tatsächlich auf Mit­gestaltung und Teilhabe vorbereitet wird. Das kann meines Erachtens in der Demokratie nicht funktion­ieren.



Langzeit­studien mit großen Fall­zahlen und groß­angelegte Experimental­studien zur Effektivität von Inter­ventionen (‚Randomized Controlled Trials‘) können jedoch starke Zusammen­hänge zwischen einzelnen Faktoren politischer Bildung und deren Erfolg sichtbar machen. Von diesen Möglich­keiten sollte meines Erachtens stärker Gebrauch gemacht werden, um die Theorien­bildung in der politischen Bildung voran­zutreiben und um Empfehlungen für die Planung und Durch­führung einzelner politischer Bildungs­angebote liefern zu können.
Ein Problem, vor dem wir ins­gesamt in der Forschung zur politischen Bildung stehen, ist aber, dass wir nur wenige starke Hypo­thesen zur politischen Bildung und ihrer Wirkung haben. Die Aussage, dass jedes Angebot politischer Bildung anders sei und es daher keine allgemeinen Hypo­thesen geben könne, halte ich letztlich für eine Schutz­behauptung. Auch in komplexen Lern­situationen können Faktoren identifiziert werden, unter denen politische Bildung gut oder weniger gut funktioniert. Der Grund für mangelnde Hypo­thesen in der politischen Bildung ist aus meiner Sicht, dass empirische Unter­suchungen von politischen Bildungs­angeboten in den letzten Jahr­zehnten vernachlässigt worden sind.

Stefan Kroll: In Deinen Forschungen interessiert Du Dich ins­besondere für das Thema der Global Citizen­ship Education. Warum sind globale Perspek­tiven so besonderes wichtig und wird die politische Bildung in Deutschland dem gerecht?

Raphaela Schlicht-­Schmälzle: ‚Global Citizen­ship Education‘ ist für mich kein Teil­bereich oder Thema politischer Bildung. Es ist aus meiner Sicht ein neuer Rahmen, unter dem politische Bildung stattfinden sollte. Politische Bildung wird häufig durch die Brille des National­staats entwickelt und gestaltet. Dabei werden nationale Identitäten angenommen und die Idee zugrunde gelegt, Bürger:­innen von National­staaten zu erziehen: Die finden sich in erster Linie im nationalen politischen Gefüge zurecht, kennen sich mit den historischen Zusammen­hängen des eigenen Landes aus und betrachten gesell­schaftliche Konflikte aus der nationalen Perspektive. Das liegt auch daran, dass politische Bildung in der Schule historisch in der Entstehung der National­staaten wurzelt. Das halte ich für nicht mehr zeit­gemäß.
In einer global eng vernetzten Welt mit starken ökonomischen und ökologischen Abhängig­keiten und fort­schreitender menschlicher Mobilität und Migration müssen wir uns als Weltbürger:­innen verstehen. Dafür brauchen wir globales politisches, soziales und historisches Wissen. Darüber hinaus benötigen wir Kompetenzen, um globale Probleme zu erkennen und uns mit diesen auseinander­zusetzen. Dafür müssen wir uns global vernetzen und organisieren können. Letztlich sind auch Werte­diskurse nicht mehr lokal lösbar. Die meisten Werte­fragen sind eng mit Aspekten der Globali­sierung verbunden. Wir dürfen Werte­diskurse daher nicht abgekapselt führen, sondern sollten sie auf der globalen Ebene aushandeln.

Stefan Kroll: In Deiner jüngsten Veröffent­lichung beschreibst Du die Unterschiede beim Niveau der politischen Bildung in verschiedenen OECD-Ländern und Du setzt dies in Beziehung zur sozialen Ungleichheit. Wie wirkt die politische Bildung gerade in diesem Bereich?

Raphaela Schlicht-­Schmälzle: In der politischen Bildung gibt es extrem starke soziale Ungleich­heiten. Die soziale Herkunft, die Migrations­geschichte oder das Geschlecht bestimmen sehr stark, was wir über Politik wissen, wie wir uns einbringen (können) und auch unsere moralische Urteils­fähigkeit. Diese Ungleich­heiten sind besonders fatal. Michael X. Delli Carpini und Scott Keeter schreiben in ihrem Buch „What Americans Know about Politics and Why It Matters“, dass soziale Ungleich­heit in der politischen Bildung bedeutet, dass die Herkunft bestimmt, wer am politischen Prozess teilnimmt. Dies wiederum sagt vorher, für wen Politik gemacht wird und wer von der politischen Agenda profitiert.

 

In einer global eng vernetzten Welt mit starken ökonomischen und ökologischen Abhängig­keiten und fort­schreitender menschlicher Mobilität und Migration müssen wir uns als Weltbürger:­innen verstehen. Dafür brauchen wir globales politisches, soziales und historisches Wissen.


Das heißt: Wenn wir starke Ungleich­heiten in der politischen Bildung zulassen, führt dies auch lang­fristig dazu, dass Politik vor allem für eine privilegierte informierte teilhabende Schicht gemacht wird. Politische Bildung muss also alle erreichen und muss versuchen, Ungleich­heiten zu reduzieren. In Deutsch­land wissen wir noch zu wenig über die Ungleich­heits­mechanismen in der politischen Bildung. Dass Diversität innerhalb der Lern­gruppe die politische Bildung aller Schüler:­innen bereichert, ist ein Befund, der sich in der Forschung recht stabil zeigt. Der Austausch zwischen heterogenen Gruppen ist daher für alle positiv und fördert die Perspektiven­übernahme – im Übrigen auch die der sozial privilegierten Schüler:­innen. Im gegliederten Schul­system in Deutsch­land schaffen wir zumindest ein solches Umfeld nicht. Vielmehr bilden wir intellektuell und kulturell homogene Kapseln, zwischen denen es zumindest in der Schule kaum Austausch geben kann. Ein wichtiger Punkt ist, dass politische Bildung für alle gesell­schaftlichen Milieus zugänglich ist; und zwar nicht nur einzelne zielgruppen­spezifische Angebote, sondern alle Bereiche der politischen Bildung.

Stefan Kroll: Für die HSFK ist die politische Bildung ein zentrales Feld des Wissens­transfers. Was sind für Dich die zentralen Heraus­forderungen und auch Themen in diesem Bereich in den kommenden Jahren?

Raphaela Schlicht-­Schmälzle: Aus meiner Sicht ist die Begleitung hin zu einer global orientierten politischen Bildung, also ‚Global Citizen­ship Education‘, eine wichtige Heraus­forderung. Die HSFK ist mit ihrer Expertise in der inter­nationalen Friedens­forschung hierfür prädestiniert. Ein wichtiger Punkt ist auch die Reduktion sozialer Ungleich­heiten in der politischen Bildung. Die HSFK kann dazu beitragen, dass politische Bildung zugänglicher gestaltet wird und vielfältige Ziel­gruppen einbindet. Ich denke aber auch, dass sie ihre Forschungs­expertise nutzen sollte, um Erfolgs­faktoren politischer Bildung wissen­schaftlich zu analysieren und die Qualitäts­sicherung voran­zutreiben.

Stefan Kroll: Vielen Dank für das Gespräch!


Zur Person

Dr. Raphaela Schlicht-­Schmälzle ist wissen­schaftliche Mitarbeiterin in Programm­bereich III „Trans­nationale Politik“ an der HSFK. Im Rahmen des PrEval-Projekts entwickelt sie gemeinsam mit Akteur:­innen aus der politischen Bildung Ansätze zur Evaluation von Maßnahmen in der Extremismus­prävention. Seit 2020 fungiert sie darüber hinaus als Ansprech­person für das HSFK-Netzwerk PRIF@Schule.

Im Gespräch

Raphaela Schlicht-Schmälzle

Wissen­schaftliche Mit­arbeiter­in


Zum Weiterlesen

Schlicht-Schmälzle, Raphaela (2021): Students’ Civic Knowledge Achievement – A Cross-National Comparative Analysis, PRIF Working Papers No. 55, Frankfurt/M.

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