Die „Befreiung“ von Frauen in Afghanistan
Interview mit Victoria Scheyer
Victoria, bei der Online-Podiumsdiskussion am 11. November, die du organisiert hast, wird es um die Rechte afghanischer Frauen gehen. Die UNSCR 1325 zu „Women, Peace and Security“ sieht ja nicht nur den Schutz von Frauen in Konfliktsituationen vor, sondern auch deren aktive Partizipation in sicherheitspolitischen Entscheidungsprozessen. Welche Seiten der Thematik beleuchtet die Podiumsdiskussion und warum ist das Thema gerade jetzt relevant?
Victoria Scheyer: Seit Beginn der Afghanistaneinsätze spielen Frauenrechte eine besondere Rolle bei der Legitimation westlicher Militärinterventionen. Eine formale Mitbestimmung von Frauen nach der UN-Resolution 1325 in den Friedensgesprächen wurde stark vernachlässigt. In 23 Runden der Friedensverhandlungen zwischen 2005 und 2014 waren Frauen aus Afghanistan nur zweimal direkt am Verhandlungstisch vertreten: 2010 auf den Malediven und 2011/12 in Frankreich. Aktuell, nach dem Abzug der Truppen in Afghanistan, werden erneut verbesserte Frauenrechte in Afghanistan als Erfolg gefeiert. Die Veranstaltung beleuchtet die Perspektive von Menschenrechtsverteidiger:innen auf diese „Erfolge“ und wie sie den Kampf um Frauenrechte in den letzten 20 Jahren erlebt haben.
Wir haben im Vorfeld auch über Stereotype gesprochen – beispielsweise bei der Bildsprache. Überhaupt ist momentan oft von der „Befreiung“ und vom Schutz afghanischer Frauen die Rede – mal als Ziel, mal als Erfolg der Afghanistan-Mission. Wo und warum greift dieses Narrativ zu kurz?
Victoria Scheyer: Zunächst, weil dieses Narrativ meist eine westliche Interpretation von Schutz, Rechten oder Emanzipation von Frauen bzw. einer ganzen Gesellschaft ist und keinen Raum für andere Verständnisse und Umsetzung bietet. In westlichen Ländern gibt es bestimmte Vorstellungen von der „Kultur“ in Afghanistan bzw. muslimischen Ländern, die meist mit rassistischen Narrativen unterlegt sind. Als „Befreiung“ von afghanischen Frauen wird also häufig im Zusammenhang von bestimmter Kleidung oder Zugang zu Berufen gesprochen und eine bestimmte Idee von „Kultur“ bestätigt. Die Erfahrungen, Vorstellungen und Kämpfe von Frauen und Zivilgesellschaft aus Afghanistan werden dabei außer Acht gelassen, Frauenrechte vor der Taliban-Herrschaft vollständig ignoriert. Diese Veranstaltung zeigt ein anderes Narrativ der Frauenrechte in Aghanistan auf.
Die Speaker haben teils ganz unterschiedliche Hintergründe. Was verbindet sie mit dem Thema und welche Perspektiven bringen sie ein? Und wie können diese zivilgesellschaftlichen und journalistischen Perspektiven die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema voranbringen?
Victoria Scheyer: Alle Sprecherinnen haben unterschiedliche Hintergründe. Fereschta Sahrai ist Wissenschaftlerin und forscht zum Friedensprozess in Afghanistan und die Beteiligung von Frauen. Samira Hamidi kämpfte jahrelang in Afghanistan für Frauenrechte und Frieden, war in den verschiedensten friedenspolitischen Bereichen aktiv und arbeitet heute bei Amnesty International weiterhin für die Rechte von Frauen und Frieden. Ronja von Wurmb-Seibel ist Journalistin und Filmemacherin und erzählt in ihren Projekten die Geschichten von Menschen, die aus Afghanistan fliehen mussten. Jeanette Böhme arbeitet bei Medica Mondiale und setzt sich für die Umsetzung der Agenda Frauen, Frieden und Sicherheit ein und für die Rechte von Frauen in Konflikten, vor allem in Afghanistan. Alle Sprecherinnen arbeiten in verschiedenen Bereichen für Frieden direkt mit Menschen in Afghanistan. Sie kennen die Lebensrealitäten von Frauen in Afghanistan, aber auch die politischen Herausforderungen international und in Deutschland, vor allem auch die Widerstände, gegen die sie Tag für Tag ankämpfen.
Direkt anknüpfend an diese Frage und sozusagen als Blick in die Zukunft: Welche Forschungsfragen und Projekte zum Thema braucht es zukünftig?
Victoria Scheyer: Wir brauchen viel mehr Forschung darüber, wie Konflikttransformationen und Friedensverhandlung inklusiv und mit der Partizipation von Frauen und verschiedenen Gruppen stattfinden können. Natürlich auch, wie die Agenda Frauen Frieden und Sicherheit kontextabhänging umgesetzt werden kann, ohne Machtgefälle und ohne die Reproduktion westlicher Narrative die Frauenkämpfe und Zivilgesellschaft ignoriert. Außerdem brauchen wir dringend einen selbstkritischen Blick in der Forschung auf westliche Machtstrukturen und Wissensproduktion, und wie wir in der Wissensproduktion rassistische Narrative entlarven und diesen entgegenwirken können. Dies muss vor allem in der Aufarbeitung des deutschen Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr beachtet werden.
Vielen Dank für das Gespräch!
Weitere Details zur Veranstaltung und alle Informationen zur Teilnahme finden sich auf der Veranstaltungsseite.
Zur Person
Victoria Scheyer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der HSFK und promoviert am Gender, Peace and Security Institute der Monash University in Melbourne. Ihre Forschungsschwerpunkte sind feministische Ansätze der Friedens- und Konfliktforschung mit besonderem Fokus auf feministische Außenpolitik und die Agenda Frauen, Frieden, Sicherheit.
Im Gespräch

Wissenschaftliche Mitarbeiterin