Europäische Solidarität in der Krise?

Der zweite Crisis Talk des Leibniz-Forschungsverbunds „Krisen einer globalisierten Welt“ tagte in Brüssel

Europäische Solidarität in der Krise? Diese höchst aktuelle Fragestellung war am Dienstag, den 23. Februar 2016, Aufhänger und Gegenstand des zweiten Crisis Talks, einer gemeinsam vom Leibniz-Forschungsverbund „Krisen einer globalisierten Welt“, dem Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“, der Landesvertretung Hessens bei der Europäischen Union und dem Brüssel-Büro der Leibniz-Gemeinschaft ausgerichteten Vortragsreihe. Über 150 Teilnehmer aus Politik und Öffentlichkeit waren zu der Lunch Debate gekommen, um über die Frage zu diskutieren, inwiefern sich in den gegenwärtigen Krisen Europas, im Besonderen der Flüchtlings- und die Griechenlandkrise, ein Schwinden der europäischen Solidarität offenbart – oder inwiefern gerade in der Krise die Chance steckt, Solidarität neu und fester zu begründen.


Nachdem die beiden Grußworte – zunächst von Lucia Puttrich, der Hessischen Ministerin für Bundes- und Europaangelegenheiten, dann von Klaus Dieter Wolf, Sprecher des Leibniz-Forschungsverbundes und geschäftsführender Direktor des Leibniz-Instituts  Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung – den thematischen Rahmen abgesteckt hatten, erörterte Michael Zürn, Politologe am Wissenschaftszentrum Berlin, wie die Griechenland- und wie die Flüchtlingskrise sich als Momente des Hochskalierens von Solidaritätsforderungen verstehen lassen. Erfolgreiche Skalierung – im Fall der Flüchtlingskrise von der Ebene minimaler Solidarität auf die Ebene institutionalisierter Solidarität, im Fall der Griechenlandhilfen von der Ebene institutionalisierter Solidarität hin zu umverteilender Solidarität – setzt für ihn die Anerkennung neuer Gruppen als ‚zugehörig‘ voraus. Zürn zufolge muss in der Europäischen Union diese Ausweitung von Solidarität mittels Politisierung erfolgen. Er illustrierte dies am positiven Beispiel der offenen Thematisierung der Solidarität mit Flüchtlingen, die zumindest zunächst bewirkt habe, dass die absolute Ablehnung von Zuwanderung zurückgeht und dies, obwohl die Zahl der Zuwandernden über Jahre hinweg stieg. Wenn Eliten in einer Krise Politisierung versuchen, so müssen sie das Risiko des Scheiterns in Kauf nehmen. Die Scheu vor Politisierung, gerade in Blick auf Eurokrise und Griechenlandrettung, sei langfristig riskanter als die offensive Begründung von Alternativen.

In der anschließenden Diskussion auf dem Podium und mit dem Publikum betonte Rebecca Harms, Mitglied des Europäischen Parlaments und Fraktionsvorsitzender der Grünen/EFA, dass man, die deutsche Diskussion nicht europäisch verallgemeinern dürfe und von der EU nicht Handlungsweisen und die Effizienz nationalstaatlichen Agierens erwarten dürfe. Vielmehr verwiesen die gegenwärtigen Probleme auf das nicht aufgearbeitete Scheitern des Verfassungsprozesses, dessen Anliegen richtig und wichtig blieben. Janusz Lewandowksi, Europaparlamentarier und früher polnischer EU-Kommissar, teilte Zürns und Harms Anliegen politische Identitätsprozesse zu bestärken, er arbeitete jedoch genauso heraus, dass man die funktionale Begründung Europas nicht geringschätzen dürfe. Obwohl eine instrumentelle Begründung Europas scheitern könne, müsse der gegenwärtigen Orientierungskrise doch auch durch kleine Schritte und das Beweisen Europas im Alltag begegnet werden, wie ihn biographische Erfahrung und die Geschichte der osteuropäischen Staaten lehre.