Reale Bedrohung aus Iran? Zum Stand der NATO-Raketenabwehr in Europa

Neuer Policy Brief analysiert das in Europa im Aufbau befindliche Raketenabwehrsystem der USA und die bestehenden Programme der NATO, die vor Raketenangriffen aus Iran schützen sollen

In dem aktuellen Policy Brief "U.S./NATO Missile Defense in Europe. Implications for Iran and the Two Major Conveners of the Helsinki Conference" des Akademischen Friedensorchesters Nahost schlussfolgert der Autor Bernd W. Kubbig: Es gibt keine überzeugenden Iran-bezogenen Bedrohungsszenarien, die sowohl die gegenwärtigen Programme der USA als auch die derzeit zusätzlich vorhandenen Abwehrsysteme europäischer NATO-Mitglieder rechtfertigten – zumal letztere technologisch äußerst begrenzt sind. In der Vergangenheit hätten Raketenabwehrsysteme im Bereich nuklearer Abrüstung  zu Konfrontation als Kooperation zwischen Staaten geführt. Die Zusammenarbeit der USA und Russlands in Syrien sendet dennoch positive Signale für die Helsinki-Konferenz zur Einrichtung einer Zone frei von Massenvernichtungswaffen und deren Trägersysteme in der Konfliktregion des Mittleren Osten.

Auf dem Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der NATO-Mitgliedsländer am 4. und 5. September in Wales will die Allianz demonstrieren, dass sie „Stabilität in einer Welt ohne Vorhersehbarkeit“ schaffen kann. Das trifft auch für die Raketenabwehraktivitäten des Bündnisses und vor allem für die der USA zu, die Europa vor Raketenangriffen aus Iran schützen sollen – US-Präsident Barack Obama hat die iranischen Arsenale als „reale Gefahr“ bezeichnet.

Vor diesem Hintergrund untersucht der Policy Brief von Bernd W. Kubbig, Projektleiter am Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), die US- und NATO-Raketenabwehr in Europa, ihre Auswirkungen auf Iran und auf die Umsetzung der geplanten Helsinki-Konferenz. So erläutert Kubbig, dass das mit Raketenabwehrwaffen ausgerüstete Aegis-Schiff, das Kernelement des US-Abwehrschirms für Europa gegen iranische Raketen ist, nach Meinung des Pentagons nicht ständig im Einsatz sein und nicht jeden Ort in NATO-Europa schützen muss. Laut Bernd W. Kubbig unterstreicht diese überraschende operative Tatsache, dass selbst aus offizieller Sicht die „reale Bedrohung“ aus dem Iran nicht beständig in gleicher Intensität besteht.

Vertreter der Obama-Regierung erklärten wiederholt, dass die US-Abwehraktivitäten in Europa den Kontinent und seine Bevölkerung ab 2018 zu schützen vermögen. Dies wirft für Kubbig die Frage auf, warum die teuren und technologisch äußerst begrenzten Raketenabwehrwaffen von europäischen NATO-Partnern hierfür zusätzlich notwendig sind. „Sie sind einfach für die Territorialverteidigung selbst der östlichen Türkei nicht geeignet, wobei die türkische Regierung in Ankara in absehbarer Zeit ihre eigenen Systeme aufstellen wird“, erläutert der Autor der Studie. Für das Ziel, Soldaten der Mitgliedsstaaten bei Einsätzen außerhalb des Bündnisses gegen Raketen zu schützen, gebe es keine überzeugenden Iran-bezogenen Szenarien, so Kubbig.

Der Policy Brief betont außerdem die wichtige Rolle der USA und Russlands, daran mitzuwirken, dass die Helsinki-Konferenz noch vor der Überprüfungskonferenz des Nuklearen Nichtverbreitungsvertrages im Frühling 2015 in New York stattfindet. Mehr als 20 Jahre nach Ende des Kalten Krieges hat die Raketenabwehr, anders als von ihren Befürwortern erwartet, die Kooperation zwischen Ost und West nicht verstärkt. Vielmehr hat sie zu einem zunehmend konfrontativen Klima zwischen Staaten beigetragen.

Laut Kubbig ist es dennoch für die USA und Russland, die beiden Haupteinladenden der Helsinki-Konferenz, trotz der Ukraine-Krise nicht zu spät für eine große gemeinsame Kraftanstrengung, damit das internationale Treffen in der finnischen Hauptstadt stattfindet. Das gezielte wie entschlossene bilaterale Vorgehen der USA und Russlands, das dazu führte, dass das syrische Regime der Chemiewaffenkonvention beitrat, gebe hierzu Hoffnung, so Kubbig.
 

PD Dr. Bernd W. Kubbig ist Projektleiter am Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) und Koordinator der Track II-Initiative Akademisches Friedensorchester Nahost.
 

Den Policy Brief können Sie hier herunterladen.

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PD Dr. Bernd W. Kubbig
kubbig @hsfk .de
Tel.: 069 959 104-36 oder 0173-8907009