CSU-Forderung nach sofortigem Stopp der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ist populistisch

Abgestufte Integration glaubwürdiger als Privilegierte Partnerschaft

Die Berliner CSU-Landesgruppe will einem Bericht der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zufolge auf ihrer traditionellen Klausurtagung in Wildbad Kreuth das sofortige Ende der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei fordern. Gemäß ihrem europapolitischen Grundsatzpapier soll der Türkei endgültig die Aussicht auf die EU-Mitgliedschaft genommen werden, da sie „meilenweit von den notwendigen politischen und wirtschaftlichen Grundvoraussetzungen für einen Beitritt entfernt“ sei. Statt einer Vollmitgliedschaft soll der Türkei eine Privilegierte Partnerschaft angeboten werden. Die Türkei-Frage soll zudem mit dem neuen EU-Ratspräsidenten Herman van Rompuy kritisch diskutiert werden.

Cemal Karakas, Türkei-Experte in der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), kritisiert die Haltung der CSU: „Die erneute Forderung nach einem sofortigen Stopp der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ist populistisch. Deutschland hat nicht nur dem Beginn der Beitrittsverhandlungen am 3. Oktober 2005, sondern unter der Großen Koalition aus CDU, CSU und SPD auch dem Fortgang der Beitrittsverhandlungen ausdrücklich zugestimmt.“ Karakas ergänzt: „Es stimmt, nach wie vor gibt es in der Türkei erhebliche Demokratiedefizite. Auch die Zypern-Frage ist noch ungelöst. Es ist ja nicht so, dass die Türkei morgen der EU beitritt, sondern das ist frühestens 2014 möglich. Wenn die EU und Deutschland die Demokratieprobleme in der Türkei glaubhaft lösen wollen, müssen die Verhandlungen weiterlaufen. Auch für die Türkei muss - wie Bundeskanzlerin Angela Merkel zu Recht angemerkt hat -das Prinzip gelten: Pacta sunt servanda.“

Karakas befürwortet eine kritische Diskussion zum Türkei-Beitritt, mahnt zugleich aber an, bei den Fakten zu bleiben: „Die EU hat bereits auf dem Brüsseler EU-Gipfel im Dezember 2004 vertraglich festgehalten, dass es im Fall der Türkei keinen Beitrittsautomatismus geben wird. Zudem soll es zum ersten Mal in der Erweiterungsgeschichte dauerhafte Schutzklauseln geben, z.B. in der Arbeitnehmer- und Personenfreizügigkeit oder bei den Transferleistungen. Im Klartext heißt es: Die Türkei erwartet mit großer Wahrscheinlichkeit keine Vollmitgliedschaft, sondern nur eine Mitgliedschaft ‚Zweiter Klasse‘. Selbst diese ist nur dann realisierbar, wenn die Beitrittsverhandlungen nicht weiter politisiert und die geplanten Volksabstimmungen zum Türkei-Beitritt in Frankreich und Österreich zu gegebener Zeit positiv ausfallen. Auch wird ein möglicher Türkei-Beitritt nicht den automatischen Beitritt von Ländern aus Nordafrika oder dem Nahen Osten zur Folge haben, da es hierfür nach geltendem EU-Recht keine juristische Grundlage gibt", so der Politologe.

Karakas lehnt die von den deutschen Unionsparteien befürwortete Idee einer Privilegierten Partnerschaft für die Türkei ab: „Die Türkei hat schon eine solche Form der Partnerschaft mit der EU. Sie kann z.B. seit Mitte der 1990er Jahre an den Polizeimissionen der EU auf dem Balkan teilnehmen oder an den EU-Bildungs- und Forschungsprogrammen. Vor allem schlägt sich die Privilegierte Partnerschaft seit 1996 in Form der Zollunion nieder. Da die EU aber bestimmte Bereiche ihres Binnenmarktes vor der Türkei schützt, hat zudem seit ihrem Bestehen die Zollunion in erster Linie der EU Vorteile, sprich Handelsüberschüsse, verschafft. Ankaras Handelsbilanzdefizit mit den EU-Partnern betrug allein in den letzten drei Jahren rund 20 Mrd. Euro. Da kann man nur spöttisch sagen: Privilegierter geht eine Partnerschaft gar nicht mehr!“

Sollten die Beitrittsgespräche scheitern oder beide Seiten vorab Interesse an einer tiefer gehenden Zusammenarbeit jenseits der Vollmitgliedschaft bekunden, befürwortet Cemal Karakas das Modell der Abgestuften bzw. Graduellen Integration, das im Sommer 2005 von ihm vorgestellt wurde. „Dieses Modell ist attraktiver und glaubwürdiger als die Privilegierte Partnerschaft. Es basiert auf dem EU-Beitrittsverhandlungsrahmen mit der Türkei und sieht im Kern eine (auch) schrittweise dynamische politische Integration der Türkei in EU-Strukturen vor. Für die integrierten Bereiche sollte Ankara ein Mitentscheidungsrecht zugebilligt bekommen. Die Aktivierung der nächsten Integrationsstufe ist jedoch konditioniert – damit ist ein wichtiger Anreiz für die Türkei gegeben, ihren Weg der Stabilisierung der Demokratie und Rechtstaatlichkeit fortzusetzen oder in der Zypern-Frage eine einvernehmliche Lösung zu finden. Im Gegensatz zur Privilegierten Partnerschaft würde die Perspektive auf eine Vollmitgliedschaft zu gegebener Zeit erhalten bleiben – das ist für die Türkei ein wichtiges Argument“, so Karakas abschließend.


Weitere Auskünfte gibt Cemal Karakas gern
telefonisch unter 0 69 / 95 91 04 -45
oder per E-Mail an karakas @hsfk .de