Welche Folgen hat die Abkehr von Staaten von internationalen Institutionen? Dieser Frage widmet sich die aktuelle Ausgabe der Fachzeitschrift Historical Social Research (HSR) unter dem Titel „Drifting Apart“, die von Matthias Dembinski und Dirk Peters herausgegeben wurde. Die Ausgabe enthält zudem einen Beitrag von Mikhail Polianskii zu Russland sowie von Dirk Peters zum Brexit.
Abspaltungsprozesse können nicht nur die internationalen Institutionen betreffen. Sie können sogar zwischenstaatliche Beziehungen erheblich beeinträchtigen, denn sie verstärken häufig Spannungen zwischen austretenden und verbleibenden Staaten. Der Brexit wie auch Trumps De-facto-Blockade der Welthandelsorganisation sind derzeit sichtbarer Ausdruck dafür, dass sich Staaten von der internationalen Zusammenarbeit abkehren. Obwohl die Folgen solcher Abspaltungstendenzen von hoher politischer Bedeutung sind, wurden sie bisher kaum in der wissenschaftlichen Forschung berücksichtigt. Hier will der vorliegende Band Abhilfe schaffen, denn ein besseres Verständnis dieser Prozesse könnte zur Entwicklung von neuen Strategien und damit zu einer Entschärfung möglicher Konflikte beitragen.
Die HSR-Ausgabe enthält neben einer programmatischen Einführung fünf historische und aktuelle Fallstudien. Die Themen im Einzelnen sind: Irans Distanzierung vom Westen, der Austritt Ostdeutschlands aus dem Warschauer Pakt, Russlands Ausstieg aus der europäischen Sicherheitskooperation, Chinas Distanzierung von den globalen Finanzinstitutionen sowie der Brexit. Allen Forschungsbeiträgen liegt die Frage zugrunde, ob und wie sich die Handhabung von Abspaltungsprozessen auf die Beziehungen zwischen austretenden und verbleibenden Staaten auswirkt.
In allen Fallstudien konnten die Forschenden beobachten, dass separatistische Prozesse Spannungen zwischen Staaten verstärken. Wie stark diese sind, hängt davon ab, wie mit der Distanzierung umgegangen wird. Sie verstärken sich insbesondere dann, wenn es in den Konflikten um grundlegende Normen und Werte geht. Sind indes Verteilungskonflikte der Hauptgrund für Prozesse der Abspaltung, wirkt sich dies weniger negativ auf die zwischenstaatlichen Beziehungen aus.
Aufgrund des aktuellen Trends zur De-Globalisierung, also einer teilweisen Abkehr von Globalisierungsbestrebungen, gehen Forschende davon aus, dass Staaten in Zukunft auch weiterhin Verbünde verlassen werden. Für entsprechend wichtig erachten sie eine intensive Beforschung der Folgen von Abspaltungstendenzen.
Über das Projekt „Drifting Apart“
Das Projekt Drifting Apart untersucht seit 2019 vergleichend den Verlauf und das Ergebnis von historischen und aktuellen Dissoziationsprozessen und versucht Faktoren zu identifizieren, die Spannungen zwischen den beteiligten Staaten auslösen, verstärken oder abmildern. Es wurde unter Federführung der HSFK im Leibniz-Forschungsverbund "Krisen einer globalisierten Welt" entwickelt und bringt vier Leibniz-Institute zusammen: Die HSFK, das German Institute of Global and Area Studies (GIGA, Hamburg), das Institut für Zeitgeschichte (IfZ, München) und das Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF, Potsdam). Das Projekt wird von der Leibniz-Gemeinschaft aus Mitteln des Leibniz-Wettbewerbs gefördert.