2. Juni 2016 - Jedes Jahr erscheint das Friedensgutachten als Kooperationsprojekt deutscher Friedensforschungsinstitute – darunter auch die HSFK. WissenschaftlerInnen verschiedener Disziplinen analysieren aktuelle Konflikte und außen- und sicherheitspolitische Krisen. Sie leiten daraus Empfehlungen bzw. Handlungsoptionen für die deutsche und europäische Friedenspolitik ab.
In diesem Jahr widmet sich das Friedensgutachten der Flüchtlingsthematik: Was sind die Ursachen für die massiven Fluchtbewegungen und inwiefern ist Europa dafür mitverantwortlich?
Ein Gespräch mit dem Mitherausgeber Bruno Schoch über die zentralen Themen des Friedensgutachtens 2016.
Was ist der Schwerpunkt des neuen Friedensgutachtens?
Deutschland reagiert auf die vielen Flüchtlinge tief gespalten. Auf der einen Seite steht eine imponierende Hilfsbereitschaft, Hunderttausende von Freiwilligen engagieren sich; auf der anderen Seite gibt es Ressentiments, Hass und Anschläge gegen Flüchtlingsunterkünfte. Die gesellschaftliche Polarisierung ist für Politik und Gesellschaft eine Herausforderung, auch für die Friedens- und Konfliktforschung. Insofern lag unser Schwerpunkt gleichsam auf der Hand: „Fluchtursachen in den Fokus – Verantwortung übernehmen“. Wir wollen dazu beitragen, dass die Debatte sachlicher geführt wird.
Inwiefern ist Europa für die massiven Fluchtbewegungen mitverantwortlich?
Die Hauptursache ist meines Erachtens endogener Art, oft Staatsversagen. Wenn Staaten keine Leistungen mehr für das Gemeinwesen erbringen und autoritäre Regime sich nur mittels Repression halten, eskalieren soziale und politische Gegensätze leicht in Gewalt und Bürgerkrieg. Dennoch gibt es eine Mitverantwortung der Europäer. Der Krieg gegen den Irak 2003 hat zwar den Diktator gestürzt - die Auflösung der Armee und die Ausgrenzung der Sunniten hat aber auch zum Staatszerfall geführt und dem sogenannten Islamischen Staat (IS) einen großen Zulauf beschert.
In Libyen bewahrte die Militärintervention die Zivilbevölkerung vor den angekündigten Racheakten des Regimes. Weil es kein Konzept für eine politische Reintegration gab, hat sie das Land aber zuletzt ins Chaos gestürzt.
Gescheiterte Interventionen haben das Desaster in der Region also mit verursacht. In Syrien schreckte der Westen vor einer Intervention zurück. Er forderte die Ablösung Assads und weckte damit Hoffnungen, versagte der Opposition aber die tatkräftige Unterstützung. Das hat den IS letztlich gestärkt. Russlands Luftschläge gegen die Aufständischen hat die Lage dann weiter verkompliziert.
Wie kann Europa seiner Verantwortung gerecht werden?
Zunächst muss Europa die westlichen Interventionen und seine Ergebnisse kritisch evaluieren. Präsident Obama hat es vor Kurzem als größten Fehler seiner Amtszeit bezeichnet, dass man in Libyen keine Strategie hatte. Die Europäer sind lange davon ausgegangen, dass die USA im Nahen und Mittleren Osten für Stabilität sorgen – obwohl der „pivot” Richtung Pazifik seit langem angekündigt war. Die Flüchtlingskrise konfrontiert Europa damit, dass die bisherige Trennung zwischen Innen und Außen fließend geworden ist. Deshalb müssen wir uns sowohl ordnungs- als auch sicherheitspolitisch mehr in der Krisenregion engagieren.
Zum anderen ist daran zu erinnern, dass die überwältigende Mehrheit der Flüchtlinge aus Syrien in den Nachbarländern Zuflucht fand. Die UNO und internationale Hilfswerke mussten die Unterstützung für sie im letzten Jahr kürzen, weil die reichen Europäer die Hilfswerke nicht entsprechend ausgestattet haben. Die Flüchtlinge waren schließlich „weit weg“. Es gibt einige Anzeichen, dass sich das nun ändert.
Die Terroranschläge von Brüssel und Paris haben das Misstrauen gegen muslimische Bürgerinnen und Bürger, aber auch gegen Flüchtlinge, verstärkt. Wie können wir dem begegnen?
Gewichtiger war vielleicht die Kölner Silvesternacht. Erforderlich sind Aufklärung, verstärkte Integrationsanstrengungen und die Durchsetzung geltenden Rechts. Wo Flüchtlinge und Immigranten aus fremden, traditionalistischen Kulturen mit unseren hochgradig individualisierten, libertären und toleranten Gesellschaften in Europa zusammentreffen, bleiben Konflikte nicht aus. Es kommt darauf an, sich ihnen zu stellen, sie zu thematisieren – und daraus gemeinsam zu lernen. Verdruckstes Verschweigen erzeugt das Gegenteil des Intendierten: Es verstärkt Ängste, Unsicherheiten und Aggressionen.
Macht der Streit um die europäische Einwanderungspolitik dem Friedensprojekt Europa endgültig den Garaus? Wie ist Deutschlands Rolle dabei zu bewerten?
Die Flüchtlingskrise zerreißt die EU noch stärker als die Eurokrise. Die moralische Begründung für die Entscheidung der Bundeskanzlerin im September 2015, die Grenzen aus humanitären Gründen zu öffnen, steht außer Frage. Aber sie war mit den europäischen Partnern nicht abgesprochen, was das institutionelle Gefüge der EU beschädigte. Alleingänge verstärken auch bei anderen nationale Reflexe, wenn gemeinsam verabschiedete Regeln nicht mehr verlässlich sind. Deutschland muss abwägen zwischen dem völkerrechtlich gebotenen Schutz von Gewaltopfern und der Verantwortung für das Wohlergehen der eigenen Bevölkerung. Und es muss den Konsens mit den anderen EU-Mitgliedern suchen. Diese drei Ziele sind nicht leicht unter einen Hut zu bekommen.
Wir, die HerausgeberInnen des Friedensgutachtens, bewerten den Deal der EU mit der Türkei deshalb sehr unterschiedlich. Die Mehrheit teilt die humanitären Bedenken, die der UNHCR und Menschenrechtsorganisationen dagegen erhoben haben. Weil bei mir die Sorge um den Zusammenhalt der EU und um die Stabilität der Demokratien in Europa überwiegt, halte ich das Abkommen für richtig. Die EU kehrt damit zu gemeinsamem Handeln zurück und kann Zeit gewinnen, um die dringend erforderliche europäische Grenzschutzbehörde aufzubauen.
Die Stellungnahme der HerausgeberInnen des Friedensgutachtens fasst die aktuellen Entwicklungen und Empfehlungen zusammen.
Weiterführende Links:
// Das Friedensgutachten online
Veranstaltungen:
// Vortragsreihe an der Universität Basel im Juni 2016 in Zusammenarbeit mit der HSFK: "Der neue Exodus und seine Hintergründe. Massenbewegungen und Fluchtursachen" (Flyer, pdf).
// Krise ohne Grenzen? Die EU und die Flüchtlinge. Vorstellung des Friedensgutachten 2016 Podiumsdiskussion am 29.06.2016 in Frankfurt
// Syrien – ein Trümmerhaufen / Krieg, Terror, Massenflucht – was jetzt? Podiumsdiskussion am 04.07.2016 in Frankfurt