Der Angriff auf alltägliche Infrastrukturen und der Wandel des Krieges

In den letzten Jahrzehnten sind Zivilist*innen auf der ganzen Welt im Rahmen von Aufstandsbekämpfungskriegen Opfer von Luftangriffen und Artilleriebeschuss geworden. Afghanistan, Gaza, Irak, Jemen, Syrien, Myanmar und Äthiopien sind nur einige der Orte, die hier in den Sinn kommen. Die Regierungen versuchen, ihre Angriffe als direkte Reaktion auf Provokationen oder drohende Angriffe von Aufständischen zu rechtfertigen. Mit diesen Maßnahmen, die häufig Kriegsverbrechen darstellen, bestrafen Regierungen Zivilist:innen, die sich in Aufstandsgebieten aufhalten oder im Verdacht stehen, Aufständische zu unterstützen, mit dem Ziel, die fragilen Beziehungen zwischen Zivilist*innen und Rebellengruppen zu zerstören. Doch Regierungen sind nicht die einzigen Straftäter. Auch nichtstaatliche bewaffnete Gruppen haben nachweislich systematisch Gewalt gegen Zivilist*innen verübt.

In der vorhandenen Literatur wird der Begriff der zivilen Opfer jedoch eng gefasst und auf Todesopfer reduziert. Die Viktimisierung von Zivilist*innen ist jedoch mehr als ihre direkte Tötung. In den letzten Jahrzehnten hat es auch eine Zunahme gezielter Angriffe auf zivile und kritische Infrastrukturen wie die Nahrungsmittelversorgung, Gesundheits- und Bildungseinrichtungen, die Wasser-, Sanitär- und Hygieneinfrastruktur, die Energieversorgung und die Verkehrsinfrastruktur gegeben. Solche Zerstörungen sind ein ausgeprägtes Merkmal sowohl innerstaatlicher Kriege wie in Syrien und im Jemen als auch zwischenstaatlicher Kriege wie unter anderem in der Ukraine und im Irak.

Während die Zahl der Gefechtstoten und der kriegsbedingten zivilen Todesopfer zurückgeht, nimmt die Zahl der langfristigen zivilen Todesopfer infolge von Angriffen auf diese wichtigen Infrastrukturen zu. „Die zunehmende Bedeutung von Angriffen auf alltägliche Infrastrukturen im Krieg macht den Krieg für die Soldaten sicherer und für die Zivilbevölkerung viel riskanter. Das Problem sind nicht schlecht gezielte Waffen [d.h. ‚Kollateralschäden‘], sondern vielmehr die zunehmend schwerwiegenden Folgen des Krieges für die öffentliche Gesundheit" (zitiert in Graham 2005, 174).

Obwohl es sich hierbei nicht um eine neue Taktik handelt (Wasservergiftungen und Belagerungen von Städten sind seit dem Mittelalter bekannt), haben die jüngsten Kriege im Nahen Osten und Nordafrika (MENA) sowie in der Ukraine einen neuen Höhepunkt in der vorsätzlichen Zerstörung ziviler Infrastrukturen erreicht. Ziel des Projekts ist es daher, die gezielte Zerstörung alltäglicher Infrastrukturen in bewaffneten Konflikten zu analysieren, die sowohl von staatlichen als auch nichtstaatlichen Akteuren in zwischen- und innerstaatlichen Kriegen begangen wird. Die Haupthypothese ist, dass die Zerstörung ziviler Infrastrukturen untrennbar mit der Transformation und Internationalisierung von Krieg und Kriegsführung im 21. Jahrhundert verbunden ist. Durch die Untersuchung dieser Taktik können wir also verstehen, warum und wie sich die Kriegsführung in den letzten Jahrzehnten verändert hat. Entscheidend ist, dass dieses Unterfangen eine stärker integrierte Untersuchung von Bürger- und zwischenstaatlichen Kriegen erfordert.